Eine dynamische Siedlergemeinschaft

Um der Wohnungsnot in Kempen zu begegnen, sind von 1924 bis 1928 am Hülser Weg, an der Ludwig-Basels-Straße, an der Vorster Straße, der Wilmius-, Herkenrath- und Dinkelbergstraße Wohnhäuser gebaut worden.

 

Das nächste Projekt wird vor der Innenstadt geplant - im Stadtteil Kamperlings. Der Bezirk ist erst 1924 auf Bitten seiner 67 Einwohner von der entfernt gelegenen Gemeinde St. Hubert getrennt und der Stadt Kempen zugeschlagen worden. 1930 beauftragt die Stadtverwaltung die Rheinische Wohnungsfürsorge-Gesellschaft, später zur "Rheinischen Heimstätte" umgebaut, mit Bauentwurf und Planung am Kamperlingsbusch. Aber die 1931 einsetzende schwere Wirtschaftskrise verzögert den Baubeginn.

 

Am 30. Januar 1933 kommen die Nazis an die Macht. Um die Bevölkerung für sich zu gewinnen, greifen sie vielversprechende Projekte auf, für die infolge der Wirtschaftskrise das Geld nicht mehr da war. Bedenkenlos beseitigen sie bürokratische Kontrollen und rechtsstaatliche Instanzen. Sie spekulieren auf die Zukunft und betreiben eine einfallsreiche, oft waghalsige Kreditpolitik, die demokratische Politiker nicht hätten verantworten können. Am 27. Oktober 1933 gibt der Stadtrat, in dem mittlerweile nur noch Nationalsozialisten sitzen, grünes Licht für den Bau von 20 Siedlungshäusern am Kamperlingsbusch. Um die Kosten zu senken, soll Eigenleistung eine wichtige Rolle spielen, deshalb befinden sich unter den Siedlern neun Bauhandwerker und fünf Bauhilfsarbeiter.

Am Dienstagnachmittag, 30. Januar 1934, dem Jahrestag der "Machtergreifung", ziehen die ersten 20 Siedler zur Baustelle am Kamperlingshof, begleitet von flotter Marschmusik eines SA-Spielmannszuges. In geschickter Regie wird ein Ereignis, das seinen Ausgang noch in demokratischen Zeiten nahm, als Leistung der neuen Machthaber ausgegeben, wird die Gutgläubigkeit und Leistungsbereitschaft der Siedler zu Propaganda-Zwecken missbraucht. Kaum einer kennt die wahren Ziele des NS-Regimes. "Von uns 20 waren 19 arbeitslos", hat nach dem Krieg ein Zeitzeuge berichtet. "Da waren wir dankbar, dass wir endlich wieder anpacken konnten." Indes: Das Projekt Kamperlings kann die Arbeitslosenzahlen in Kempen nicht senken, dazu ist die Eigenleistung beim Bau der Siedlungshäuser zu hoch. Mit den schwierigeren Arbeiten, für die man eine professionelle Bauleitung braucht, ist die Baufirma Karl Schmitz betraut worden, aber viel zu tun hat sie nicht, denn die Siedler legen sich gewaltig ins Zeug. Hauptberuflich tätige Arbeitskräfte einzustellen lohnt sich da nicht. Trotzdem verkündet der neue Bürgermeister Gustav van Beek, als er am 30. Januar 1934, dem Jahrestag der "Machtergreifung", den ersten Spatenstich tut: "Die Welt lauscht der Stimme des Führers, der in einem Jahr einen neuen Staat geschaffen hat und Arbeit, zu der auch die Form der Siedlung gehört." Äußerungen wie diese tragen dazu bei, in der Bevölkerung eine Aufbruchsstimmung und Optimismus in die Zukunft zu verbreiten. Dass das neue Regime auf einen Krieg zusteuert und die jüdische Minderheit ausschalten will, kann sich kaum einer vorstellen.

Die eigentlichen Bauarbeiten beginnen dann im Frühjahr, als der Boden Ausschachtungen zulässt. So fleißig sind die politisch arglosen Siedler, dass bereits am 29. April das erste Richtfest begangen werden kann. Im Herbst 1934 sind die ersten 20 Wohnhäuser fertig. Der Einzug vollzieht sich noch im Schein rußender Petroleumlampen, Stromleitungen legt das RWE erst später. Dafür blüht ländliches Leben: Jeder Siedler ist verpflichtet, zwei Schweine und sechs Hühner zu halten, wahlweise auch ein Schwein, eine Ziege und sechs Hühner.

Das Siedlungsprojekt ist für die Menschen sinnvoll - die monatliche Belastung von 15 Reichsmark kann ein Facharbeiter gut tragen - und in der Bevölkerung ist es populär. "Der Hauptzweck ist, die Siedler mit der heimatlichen Scholle vertraut zu machen", würdigt am 28. Juni 1934 der Redakteur Karl Wilhelm Engels in seinem Niederrheinischen Tageblatt. Engels ist in Kempen einer der wenigen Gegner des Nazi-Systems; wegen seiner kritischen Äußerungen wird seine Zeitung anderthalb Jahre später - am 20. November 1935 - verboten werden. Sein Lob lässt in Kempen so manchen, der die braunen Machthaber bisher kritisch gesehen hat, umdenken.

Das Interesse an weiteren Siedlerstellen ist so groß, dass der Stadtrat am 8. Juli 1935 eine Verdopplung der schon errichteten Plätze beschließt. Am 22. April 1939 - in dieser Woche vor 78 Jahren - kann das Richtfest für weitere 24 Siedlerstellen begangen werden. Am 13. Juli 1939 beschließt der Stadtrat noch einmal eine Erweiterung. 22 Bewerbungen liegen bereits vor. 82 Siedlerstellen, so lautet die Vision der Ratsherren, solle die Siedlung Kamperlings in absehbarer Zeit umfassen. Mit dem Bau der ersten zwölf soll im Herbst 1939 begonnen werden.

 

Aber Hitlers Überfall auf Polen verhindert den Baubeginn. An die 60 Männer aus Kamperlings werden Soldat, zehn von ihnen kommen nicht zurück. Wie der neunzehnjährige Walter Müller, Kamperlings 10, der 1944 mit seinem Vorpostenboot in der Nordsee unterging. Oder wie der Obergefreite Hubert Ploenes, Kamperlings 54, der ein Jahr nach Kriegsende, am 2. März 1946, in einem Gefangenenlager 80 Kilometer westlich Briansk während einer Lungenentzündung an Entkräftung starb.

Was den Nationalsozialisten gar nicht gefallen hätte: In der Siedlung in Kamperlings entwickelte sich nach dem Krieg eine zutiefst demokratische Gemeinschaft. Das Miteinander spielt eine große Rolle, aber es wird auch gerne kontrovers diskutiert. Die neue Siedlergemeinschaft, im Dezember 1945 gegründet, verband ihre Vorstandswahl vom 8. Januar 1949 mit einem großen Familienabend mit Tanz - und unzählige Veranstaltungen folgten: unvergessene Karnevalsbälle im Saal Fiekers in Klixdorf; seit 1955 St.- Martinszüge im zweijährigen Wechsel mit Nikolausbescherungen; Fußballturniere, Kinderschützenfeste, und, und, und... Ein Döneken der besonderen Art: 1960 schlossen sich die Karnevalisten aus Kamperlings zur KG Weiß und Blau zusammen. Als drei Jahre später in Kempen der städtische Zug mangels Prinzen ausgefallen war, ließen sie einen eigenen Mini-Rosenmontagszug durch die Kempener Innenstadt rollen.

Zum Kerngebiet Kamperlings kam bald "Kamperrechts": die Häuser auf der anderen Seite der Oedter Straße, wo vor allem Flüchtlinge ihr Heim gefunden hatten. In den Gaststätten Kamperlings-Eck und Schmitz-Gilsing, beim Metzger und Friseur, im Konsum am Lindenweg tauschten die Kamperlingser ihre Neuigkeiten aus.

Aus der Reihe der Siedlergemeinschafts-Vorsitzenden ragt vor allem Hans-Hubert Schmedders hervor, der vom 28. Juni 1969 bis zum 24. November 1995 amtierte und beim Abschied zum Ehrenvorsitzenden ernannt wurde. Sein rastloses Engagement trug ihm den Ehrennamen "Bürgermeister von Kamperlings" ein. Seit dem März 2014 ist der Glasermeister Robert Schmitz Vorsitzender, der sich nach Kräften bemüht, die stolze Tradition der Siedlergemeinschaft fortzuführen. Unter seiner Leitung hat der Vorstand es geschafft, verschiedene Aktivitäten wie Seniorenkaffee, Nikolausfeiern und alle zwei Jahre ein Siedlerfest zu veranstalten beziehungsweise, wenn kein Fest stattfindet, einen Ausflug für die Mitglieder. Nur der alle zwei Jahre organisierte St.- Martinszug kann nicht mehr ziehen: Auflagen und Kosten sind zu hoch geworden.